Warum es besser ist, bei disruptiven Innovationen nicht auf den Kunden zu hören

Warum es besser ist, bei disruptiven Innovationen nicht auf den Kunden zu hören

Wird darüber gesprochen, wer die digitale Disruption verschlafen hat, dann werden meist zwei berühmte Marken genannt: Kodak bei der Digitalfotografie, Nokia bei den Smartphones. Doch ist das wirklich so? Lassen Sie es mich am Beispiel Kodak näher erläutern.

Kodak und die Digitalkamera

Der Ingenieur Steven J. Sasson trat 1973 in den Eastman Kodak Konzern ein. Bereits 1975, im Alter von 25 Jahren, konstruierte er die erste Digitalkamera. Er ahnte damals wohl kaum, wie disruptiv und bahnbrechend seine Erfindung war und dass diese fast 40 Jahre später Kodak zu Fall bringen würde. Die erste Digitalkamera wog fast 4 Kilo, hatte eine Bildauflösung von 0,01 Megapixel und es dauerte 23 Sekunden um ein Bild auf einer Musikkassette zu speichern.

Als er seine Erfindung seinen Kollegen und der Geschäftsleitung präsentierte, kamen Fragen auf wie: Warum sollte irgendjemand seine Fotos auf einem Fernsehbildschirm sehen wollen? Wie sollen die Bilder gespeichert werden? Kann es so etwas wie ein elektronisches Fotoalbum für eine breite Kundschaft geben? Fragen über Fragen, auf die Sasson damals keine Antworten bereit hatte.

Viele Jahre der Weiterentwicklung folgten. 2002 schliesslich gelang es dem Elektrotechniker Dr. Carver Mead einen digitalen Sensor zu entwickeln, der Auflösung und Farbe eines traditionellen 35mm-Films übertraf. Und somit wurden 2003 erstmals mehr Digitalkameras als Filmkameras verkauft, 2005 waren es bereits viermal so viele.

Mitte der 1990er Jahre arbeiteten bei Kodak ungefähr 140.000 Mitarbeitende, der Marktanteil im amerikanischen Filmmarkt lag bei ca. 90%. Doch bereits 20 Jahre später gibt es Kodak nicht mehr, gescheitert an einer disruptiven Innovation, die man selbst entwickelte und patentieren liess. Dabei wird heute so viel fotografiert, wie nie zuvor. Nach Schätzungen werden heute alle zwei Minuten mehr Fotos gemacht als im gesamten 19. Jahrhundert.

Heute hat das Smartphone der Digital-Kompaktkamera bereits den Rang abgelaufen. Die Linsen namhafter Hersteller wie z.B. Zeiss oder Leica sorgen für hochauflösende, qualitativ hervorragende Bilder, die sogleich mit dem eigenen sozialen Netzwerk geteilt werden können. Und Speicher kostet heute vergleichsweise wenig. Eine weitere, nicht disruptive, aber evolutionäre Innovation.

Die 5 Merkmale disruptiver Innovationen – warum Kodak scheiterte

Doch warum ist Kodak gescheitert und das, obwohl es die Lösung in den eigenen Händen hielt? Um das zu verstehen, ist es hilfreich, sich die Merkmale von disruptiven Innovationen vor Augen zu führen:

  • 1.) Disruptive Innovationen weisen im Vergleich zu etablierten Produkten hinsichtlich der Kundenanforderungen zunächst deutliche Leistungsnachteile auf, welche die Verbreitung der Technologie hemmen, siehe z.B. die Bildauflösung von 0,01 Megapixel, Bildrauschen oder schlechte Farbdynamik.

  • 2.) Die Eigenschaften einer disruptiven Innovation erweisen sich zunächst nur bei einer kleinen Randgruppe von Kunden als wertvoll. Die Kunst liegt darin, diese Eigenschaften zu verstehen und in einem kreativen Suchprozess Segmente zu identifizieren, wo diese bei den Anwendern punkten. Mit der Digitalkamera kann man Bilder sofort sehen, bearbeiten, speichern und löschen. All dies wird aber erst relevant, wenn die Anforderungen an die Bildqualität erfüllt sind.

  • 3.) Der Markt lässt sich am Anfang nicht so ohne Weiteres bestimmen. Das Nichtvorhandensein zuverlässiger Prognosen über Marktentwicklungen ist ein typisches Phänomen für disruptive Innovationen. So schätzte IDC, ein Marktforschungsunternehmen, 2001 den Markt für 2005 auf 40 Millionen Geräte. Tatsächlich waren es dann doppelt so viele.

  • 4.) Disruptive Innovationen haben ihren Anfang in Nischenmärkten mit überschaubarem Potenzial und schwerer Prognostizierbarkeit. Daher sind sie für etablierte Unternehmen zunächst uninteressant. So waren Digitalkameras in den Anfängen vor allem für die Studio-, Mode- und Werbefotografie interessant und passend. Für den Massenmarkt jedoch viel zu teuer, sprich zu wenig Marktpotenzial. Die S1 von Leica kam Ende 1996 auf den Markt mit einer Bildauflösung von 26 Millionen Bildpunkten und kostete damals 33.000 DM (16.900 EUR).

  • 5.) Die disruptive Technologie erfährt mit der Zeit Verbesserungen. Die Leistungsfähigkeit nimmt zu und trifft nach und nach auch die Anforderungen des Massenmarkts. Ist dies der Fall, wird die disruptive Technologie zur Bedrohung für das Bestehende. Und so überholte 2002 die Digitaltechnik mit einer Auflösung von 10-12 Megapixeln die Qualität der Filmfotografie.

Möglicherweise fehlte Kodak auch der Glaube und der Mut, dass das, was man da 1975 entwickelte auf Kundenseite wirklich auf fruchtbaren Boden stiess. Denn man war der Zeit schliesslich einen grossen Schritt voraus. Damit einher geht auch die Frage, ob ein Unternehmen Kundenwünsche entwickeln oder antizipieren
soll beziehungsweise ob es diesen lediglich entsprechen soll, siehe hier.

Warum es besser ist, bei disruptiven Innovationen nicht auf den Kunden zu hören

Doch warum scheitern etablierte Unternehmen geradezu regelmässig an disruptiven Technologiesprüngen? Eine gute Erklärung findet sich in dem Buch «The Innovator’s Dilemma» von Clayton Christensen. Sie scheitern, weil sie im Grunde alles richtig machen. Sie hören auf ihre wichtigsten Kunden, konzentrieren sich auf grosse Märkte, ignorieren Lösungen, die den Leistungsanforderungen ihrer Kunden nicht genügen und investieren kräftig in die Weiterentwicklung ihrer Produkte. Und doch scheitern sie, das klingt paradox. Aber: Gerade weil sich diese Unternehmen kundenorientiert zeigen, weil sie aggressiv in neue Technologien investieren, um ihren Kunden leistungsfähigere Produkte zu liefern, weil sie sehr akribisch Markttrends analysieren und ihre Budgets stringent auf jene Innovationen lenken, die die höchsten Erträge versprechen, verlieren sie ihre führende Position.

Im Kern bedeutet das, dass vieles von dem, was man allgemein als richtiges und gutes Management wertet, nur unter bestimmten Konstellationen zum Erfolg führt. Es gibt also Zeiten des disruptiven Wandels, in denen es besser ist, gerade nicht auf den Kunden zu hören – zumindest nicht auf den Kunden im Kernmarkt – in denen es besser ist, auf Produkte von niedrigerer Qualität mit niedrigeren Margen zu setzen und in denen es besser ist, aggressiv in kleine anstatt in grosse Märkte zu stossen.

Verschiedene Quellen wie die OECD, das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung oder Professor Oliver Gassmann von der Universität St.Gallen beziffern den Anteil von disruptiven Innovationen im tiefen, einstelligen Prozentbereich. Das bedeutet, dass über 90% der Innovationen die Weiterentwicklung des Bestehendenen zum Gegenstand haben, entweder evolutionär (inkrementelle Innovationen) oder revolutionär (radikale Innovationen). Dort lohnt es sich sehr wohl, auf den Kunden zu hören.

Wenn auch Sie sich mit Ihrem Unternehmen im Bereich dieser über 90% bewegen und wenn Sie Ihre Kunden, Ihre Märkte und Ihren Wettbewerb noch besser verstehen möchten, um Wachstumspotenziale zu realisieren, dann sollten wir uns kennenlernen. Ich freue mich auf Ihre Kontaktaufnahme.

Ihr Alexander Linder

Quellenverzeichnis

Christensen C., Matzler K., & Friedrich von der Eichen, S. (2011): The Innovator’s Dilemma. Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren. München: Vahlen Verlag.

Lukas, H.C., Goh, J.M. (2009): Disruptive technology: How Kodak missed the digital photography revolution. In: The Journal of Strategic Information Systems, 18(1), 46-55.

Brynjolfsson, E. & McAfee, A. (2014): The second machine age: Work, progress, and prosperity in a time of brilliant technologies. WW Norton & Company.

Tellis, G.J. (2006): Disruptive technology or visionary leadership? Journal of product innovation management, 23(1), 34-38.

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